Wissen und Erfahrung multiplizieren – ein Leitbild des PEZZ von Urs Eiholzer

Seit ich mich mit Medizin beschäftige, treibt mich um, wie man Wissen und Erfahrung weitergeben und multiplizieren kann, so dass viele Patienten von den Erkenntnissen eines Einzelnen profitieren können.

Unser Engagement - Ihr Vorteil

Bauchgefühl oder siebter Sinn?

Erfahrung kann auch einmal rechtfertigen, Dinge ohne rationale Begründung zu tun. Dies lehrte mich mein ehemaliger Chef Prof. Emile Gautierm, als ich am Morgenrapport mit schlechtem Gewissen erzählte, bei einem Patienten einzig aus einem Gefühl heraus Abklärungen veranlasst zu haben. "Ja Urs, ich wäre wirklich böse geworden, wenn Sie ein Anfänger wären ... aber bei so viel Erfahrung, wie Sie haben, ist das Gefühl ja oft die unbewusste komplexe Integration vieler unterschiedlicher Variablen."

Dankbar geben, dankbar empfangen

Ich bin überzeugt: um Erfahrung zu teilen, müssen Menschen sich nahestehen. Konkurrenzsituationen und Rivalitäten, verhindern die Weitergabe von Wissen und Erfahrung. Derjenige, der bereit ist, weiterzugeben, verzichtet auf seine Exklusivität. Der Empfänger des Wissenstransfers auf der anderen Seite muss sich eingestehen können, dass er Hilfe und Unterstützung braucht, um ein Meister zu werden. Neben der emotionalen Nähe braucht es Dankbarkeit – Dankbarkeit, dass man Wissen und Erfahrung vermitteln darf, und Dankbarkeit, dass man Wissen und Erfahrung vermittelt erhält.

Ich habe in meinem Leben Zehntausende von Kindern mit den unterschiedlichsten Diagnosen behandeln, betreuen und begleiten dürfen. Am Anfang wurde ich dabei von grossen Lehrern, welche einiges an Nähe zuliessen, angeleitet.

Zum Beispiel Bettnässen

Die Frage, ob und wie man Erfahrungen weitergeben kann, stellte sich mir erstmals richtig zu Beginn der 1990er Jahre bei der Behandlung von Bettnässern. Das verzögerte nächtliche Trockenwerden ist in der Regel eine isolierte Reifungsstörung. Dabei hatte ich die Erfahrung gemacht, dass die Kinder selbst diesen Reifungsprozess beschleunigen konnten. Um ihnen zu helfen, musste ich drei Fähigkeiten beherrschen:

1. Ich musste mit meinem Patienten altersgerecht kommunizieren.

2. Ich musste meinen Patienten überzeugen, dass ich Recht hatte, auch wenn er selbst jede Nacht wieder eine neue negative Erfahrung gemacht hatte.

3. Ich musste meinen Patienten motivieren, gegen das Bettnässen kämpfen zu wollen.

Das alles geht nur mir viel Wissen, Erfahrung und Kraft – man muss alles, was geschehen kann, schon x-mal mit anderen Patienten erlebt haben. Das Kind muss den Experten jederzeit erkennen und erfahren können – ein zentraler Teil der Motivationsarbeit. Das geht nicht mit dosierter Kraft. Der Therapeut braucht alle seine Kräfte, um das Kind zu überzeugen. Ich habe bei keinem Kind aufgegeben – und die Kinder meist auch nicht. Und so sind viele trocken geworden.

Dann habe ich ein kleines Buch über das Bettnässen geschrieben mit dem Ziel, mein Wissen und meine Erfahrung für möglichst viele Bettnässer und behandelnde Ärzte fruchtbar zu machen. Dabei quälte mich: Wie soll man innere Haltung, Engagement, Nähe und den siebten Sinn, der sich mit viel Erfahrung einstellt, beschreiben und vermitteln? Zentral ist ja auch, wie einem Betroffene und Eltern wahrnehmen: nicht als Theoretiker und Zuschauer, sondern als echten Mitkämpfer und Mitbeteiligten. Es geht nicht mehr um Tricks und Regeln, sondern um Hoffnung und Motivation. Dabei mir ist klar geworden, wie limitiert Bücher für die Weitergabe von Erfahrung sind.

Auf Augenhöhe mit den Patienten

Ich habe während 35 Jahren fast alles gesehen, was die pädiatrische Endokrinologie zu bieten hat. Ich hatte sogar das Glück, die ersten Erfahrungen ganz nahe angeleitet zusammen mit den Mitbegründern der pädiatrischen Endokrinologie, Andrea Prader und Milo Zachmann, machen zu können.

Dazu kommt, dass ich immer viele Patienten selbst gesehen habe und damit auch von deren Erfahrungen lernen durfte. Das meiste, was ich über das Prader-Willi Syndrom sowie andere seltene und weniger seltene Krankheiten weiss, verdanke ich den Betroffenen, ihren Eltern und Betreuern. Hätte ich nur via Assistenz- oder Oberärzte mit ihnen kommuniziert, hätte ich viele Erkenntnisse nicht gehabt. Sie sind in viele wissenschaftliche Projekte mit wiederum neuen Erfahrungen geflossen.

Ganz zentral ist bei allem der kompetente Umgang mit Eltern und Kindern. Klare Ansagen, was auf sie zukommen wird, und wie wahrscheinlich ein bestimmtes Szenarium ist, nicht nur worst case Szenarien. Keine Voraussagen, um zu zeigen, dass man alles weiss, kein Herunterspielen von Symptomen, aber auch keine blinde Übernahme der Sichtweise der Eltern, kein nach dem Maul reden, um sich anzudienen. Einfach mit den Leuten umgehen, wie man das in der eignen Familie auch tun würde – auf Augenhöhe.

Weitergeben à la PEZZ

Wie kann man dies alles weitergeben? So wie es Andrea Prader und Milo Zachmann mit mir gemacht haben – nur viel, viel intensiver und länger. So läuft das bei uns im PEZZ: Bei jeder Konsultation ist der Leiter des PEZZ mitinvolviert. Bei einfachen Kontrollen reicht dazu manchmal ein Blick auf die Daten und Kurven. Bei neuen Patienten und bei allen komplexen Situationen nimmt der Leiter in aller Regel an der Konsultation teil. Dem Bedürfnis der Eltern und der Sache entsprechend finden also die Konsultationen über eine kürzere oder längere Zeit zu zweit statt.

Dieses Konzept soll sicherstellen, dass jedem Patienten das Beste im Hause zur Verfügung stehende Wissen und die entsprechende Erfahrung zu teil werden. Es gibt den Eltern einerseits zusätzliche Sicherheit und erlaubt den jüngeren Ärztinnen, in der konkreten Situation Erfahrungen zu sammeln und vom Erfahreneren zu lernen – und das über Jahre, bis sie die meisten denkbaren Störungen und Situationen mehrmals auf diese Weise durchgespielt haben. (Bei den als ‚Jüngere‘  angesprochenen Ärztinnen geht es wohl gemerkt um bereits sehr erfahrene, seit Jahren fertig ausgebildete und entsprechend diplomierte Fachärztinnen für pädiatrische Endokrinologie.)

Diese spezielle und sehr weitgehende Form der Weitergabe von Wissen und Erfahrung lassen wir uns einiges kosten. Von berechtigten Ausnahmen abgesehen, wird jeweils nur die Leistung eines Arztes verrechnet. Das Engagement für die Weitergabe und Multiplikation von Wissen und Erfahrung schliesst nahtlos an meinen bisherigen 30-jährigen Einsatz für das Prader-Willi Syndrom sowie und meine ebenso lange Tätigkeit in der Fortbildung von Kinderärzten an.