Die Notwendigkeit einer speziellen Jugendmedizin

Jugendliche sind weder grosse Kinder noch kleine Erwachsene.

Sie haben ihre eigenen Bedürfnisse. Marktstrategen im Kleidersektor haben dies schon lange gemerkt und machen mit speziell auf die Jugendlichen ausgerichteten Angeboten grosse Umsätze. Aber auch in Bezug auf die medizinische Versorgung haben die Jugendlichen ihre speziellen Bedürfnisse, welche von denjenigen des Kindes und denen der Erwachsenen abweichen. In der Schweiz gibt es aber, bis auf wenige Ausnahmen, keine spezialisierten Praxen oder Institutionen.

1. Weshalb sind die Jugendlichen auf einmal so wichtig?

Die Gruppe der Jugendlichen ist in den letzten Jahren sehr viel grösser geworden. Zwei gegensätzliche Bewegungen sind dafür verantwortlich: Die Geschlechtsreife tritt immer früher ein, die Ausbildungszeiten werden immer länger. In vielen Berufen des beginnenden 20. Jahrhunderts (Fabrikarbeiter, Bauer) war die Geschlechtsreife der Jugendlichen Beginn und Abschluss der Initiation in die (Arbeits-)welt der Erwachsenen. Gemeinsam war ja den meisten damaligen Berufen, dass in erster Linie die volle physische Kraft der Menschen verfügbar sein musste. Diese erreicht aber mit der Geschlechtsreife bereits beinahe ihren Gipfel. Heute tritt die Geschlechtsreife deutlich früher ein, die vollwertige (erwachsene) Integration in einen Beruf immer später. Kaum ein Lehrling erreicht die volle berufliche Anerkennung vor dem 20. Altersjahr. Bei den Studenten ist dieses Phänomen noch ausgeprägter. Exemplarisch ist diese Tendenz bei den angehenden Medizinern zu beobachten: Erst mit dem Erreichen der Stellung eines Oberarztes oder mit der Eröffnung der eigenen Praxis, was nicht selten erst deutlich nach dem 30. Altersjahr der Fall ist, wird ein junger Arzt als vollwertig und kompetent und damit als erwachsen anerkannt. Die Zeit der Adoleszenz, das heisst die Zeit der Veränderungen und des Übergangs, dauert damit viel länger. Durch die längere Dauer ist auch die Gruppe der Jugendlichen gesamthaft grösser geworden.

2. Die Veränderung als zentrales Prinzip der Adoleszenz und die bio-psycho-soziale Betrachtungsweise

Die Veränderung bestimmt die Adoleszenz und ist das zentrale Prinzip dieses Lebensabschnittes, welcher mit dem Einsetzen der körperlichen Pubertätsentwicklung beginnt und im Idealfall mit der endgültigen Ablösung vom Elternhaus und der vollen Integration in die Erwachsenenwelt endet. Die Adoleszenz umfasst also die Gesamtheit aller Anpassungsversuche an die neuen, veränderten inneren und äusseren Zustände, welche im Rahmen der körperlichen Pubertätsentwicklung eingetreten sind. Ich benütze den Begriff "bio-psycho-sozial" zur Definition der verschiedenen Ebenen, auf welchen Veränderungen stattfinden. Dabei steht "bio" für die körperliche Ebene, "psycho" für die innerpsychische und "sozial" für die Beziehungen zum sozialen Umfeld. "Biopsychosozial" definiert aber nicht nur drei Ebenen, sondern impliziert auch die wechselseitige Beeinflussung und Abhängigkeit der drei Ebenen untereinander. In diesem Sinne ist die getrennte Betrachtung der drei Ebenen künstlich und eigentlich nur aus didaktischen Gründen zulässig.

2.1. Die biologische Ebene
Die Veränderungen auf der körperlichen Ebene sind unübersehbar, sie werden üblicherweise unter dem Begriff "Pubertätsentwicklung" subsumiert und sind die Folge des Anstiegs der Sexualhormone.

Auf Abb. 1 sind die körperlichen Veränderungen eines durchschnittlichen Mädchens resp. einer jungen Frau photographisch festgehalten. Zwischen dem 3. und dem 11. Altersjahr bleibt der Körper bis auf die Grössenzunahme ziemlich unverändert. Zwischen dem 11. und 15. Altersjahr verändert sich der Körper zusätzlich zum Wachstum grundlegend.

Die Pubertätsentwicklung beginnt beim Mädchen mit Brustentwicklung, Auftreten der Pubesbehaarung und Wachstumsspurt bei einem durchschnittlichen Alter von 11 Jahren, mit 13 Jahren tritt die Menarche ein, mit 15 Jahren ist das Wachstum abgeschlossen und die fertilen Zyklen werden häufiger. Beim Knaben beginnt die Pubertät durchschnittlich mit 13 Jahren mit der Vergrösserung der Hoden und der Pubarche. Mit 14-15 Jahren erreicht der Pubertätswachstumsspurt den Höhepunkt, der Stimmbruch und die erste Ejakulation treten ein. Mit 17 Jahren ist das Wachstum und die Pubertätsentwicklung abgeschlossen.

2.2. Die psychische Ebene
Die innerpsychische Ebene wird geprägt durch das Auftreten neuer, bisher unbekannter Gefühle, welche wohl einerseits ihren Ursprung in der veränderten hormonellen Situation (pubertätsbedingter Anstieg der Sexualhormone) und andererseits aus der grundlegenden Veränderung der körperlichen Erscheinung ziehen. Die körperlichen Veränderungen werden primär als fremd erlebt ("es geschieht mit mir") und müssen in der Folge erst in ein neues inneres Bild von sich selbst ("wie man glaubt zu sein", Selbstbild) integriert werden. Diese Veränderung des Körpers wird wohl selbst wahrgenommen, aber auch über die Reaktion der Umwelt perzipiert. Dabei denke ich an veränderte Reaktionen der Gleichaltrigen als auch an jene von Erwachsenen, Beziehungspersonen und Fremde (Wie verändert sich doch die Aufmerksamkeit der Erwachsenen einer 13-jährigen puberalen jungen Frau gegenüber im Vergleich zum 2 Jahre jüngeren präpuberalen 11-jährigen Mädchen).

Abb. 2 zeigt einen Ausschnitt aus Abb. 1. Innert 4 Jahren wird aus einem kindlichen Körper der einer erwachsenen Frau. Die Einheit, welche über lange Jahre zwischen dem kindlichen Körper und der kindlichen Seele bestand (in der Entwicklungspsychologie als Latenzphase bezeichnet), muss auf einer neuen, zuerst jugendlichen, dann erwachsenen Ebene neu geschaffen werden. Das neue "Erscheinungsbild" muss in ein neues inneres Selbstbild integriert werden. Ziel all dieser Anstrengungen ist es, dem erwachsenen Körper ein entsprechendes neues, gereiftes und erwachsenes Selbstbild zu geben. Als Beispiel eines entgleisten Selbstbildes sei die Anorexie mit der für dieses Krankheitsbild typischen Körperentfremdung angeführt.

2.3. Die soziale Ebene
Den Veränderungen im körperlichen und innerpsychischen Bereich entsprechen Veränderungen in der Beziehung mit dem sozialen Umfeld, in welchem eine neue Autonomie gefunden werden muss. Der Weg zur Entwicklung dieser Autonomie führt typischerweise und notwendigerweise durch eine Phase, in der die Autonomie von der Ursprungsfamilie durch eine neue Abhängigkeit von den Gruppen Gleichaltriger abgelöst wird.

Mit Beginn der körperlichen Pubertätsentwicklung kommt es zu einer Bewegung aus der Familie hinaus, hinein in die Gruppen Gleichaltriger und Gleichgesinnter. Die Integration in diese Gruppen Gleichaltriger ist unumgänglich, wenn die Bewegung aus der Familie hinaus gelingen soll. Diese wiederum ist unvermeidbar, wenn aus dem Kind später ein selbstständig denkender und selbstverantwortlich handelnder Erwachsener werden soll.

Die sozialen Regeln dieser Gleichaltrigen Gruppen (von der Schulklasse, Jugendgruppe, Pfadigruppe bis hin zu Punks und Skinheads) unterscheiden sich grundlegend von denjenigen Erwachsener. In all diesen unter sich so verschiedenen Gruppen Jugendlicher ist Konformität mit den andern Gruppenmitgliedern die zentrale Eigenschaft, von der die Aufnahme in die Gruppe abhängt. Die körperliche Reife ist von zentraler Wichtigkeit für die Hierarchiebildung. Rothaarige, Adipöse und Kleinwüchsige, um nur einige Beispiele zu nennen, beginnen in diesem Alter deshalb vermehrt unter ihrer "Unkonformität" zu leiden. Dasselbe gilt auch für exzessiv Grosse. Das Bedürfnis nach Konformität und Uniformität zeigt sich selbstverständlich auch in der Art und Weise, sich zu kleiden. Konformität und Uniformität erlauben es, in die Gruppe einzutauchen und darin zu verschwinden (wie ehemals in der Familie). Das extrem uniformierend wirkende, identische Outfit bestimmter Jugendgruppen (Punks, Teddys, Skinheads etc.) bekommt aber noch eine weitere Bedeutung. In dieser Lebensphase grösster Veränderungen setzt die Uniformierung ein äusseres Gegenzeichen und signalisiert: Wir sind alle gleich, es gibt keine Unterschiede, nichts verändert sich.

Für uns Ärzte ist es etwas erstaunlich zu vernehmen, dass die körperliche Reife auch in diesem Alter weniger über Körperformen, sondern hauptsächlich über die Körpergrösse abgeschätzt wird, obwohl diese Tatsache durch Studien recht gut belegt ist. Wir Ärzte sind es gewohnt, unsere Patienten in teilweise ausgezogenem Zustand zu untersuchen, und bekommen damit augenfällige Informationen über den Entwicklungszustand unserer Patienten. Ausserhalb des Untersuchungszimmers sind diese Informationen nicht so einfach zugänglich und das altersgemässe Bedürfnis der Jugendlichen nach Konformität bewirkt, dass diese sich altersgemäss einkleiden. Sie schützen sich in den Gleichaltrigen Gruppen, indem sie mit dem entsprechenden Outfit ein gewisses "Reifersein" vortäuschen. Somatisch tätige Ärzte haben eine Tendenz, den körperlichen Ausdruck durch die Kleidung in seiner Wichtigkeit zu unterschätzen.

3. Bedürfnisse an eine jugendgerechte Medizin

Auch hier benütze ich gerne den Begriff "bio-psycho-sozial" als Leitfaden, resp. als Inhaltsverzeichnis.

3.1. Die biologische Ebene
Kompetent über körperliche Veränderungen der Pubertät Bescheid zu wissen und beurteilen zu können, was in jedem Alter noch normal ist, scheint mir unumgänglich. Der Arzt muss also in der Lage sein, kompetent Antwort zu geben über Fragen wie: Ist meine Grösse normal, wie gross werde ich als Erwachsener sein? Könnte man mich mit einer Behandlung grösser werden lassen? Sind alle meine Organe normal, arbeiten sie normal? Ist meine Brust nicht zu klein, entwickelt sich diese noch, wird sie noch grösser? Ist mein Glied normal, ist es nicht zu kurz für mein Alter, wird es sich noch entwickeln? Ich habe Brüste bekommen; bin ich kein richtiger Mann, habe ich etwa Krebs? Ist meine körperliche Entwicklung wirklich verzögert? Kommt diese noch oder muss ich mich darüber beunruhigen? Könnte man diese medikamentös beschleunigen? Ist meine Körperbehaarung normal? Ich habe noch keine Mens oder meine Periode ist ausgefallen; muss ich mich darüber beunruhigen? Ich habe Angst vor AIDS, vor einer Schwangerschaft etc. Viele Fragen entstehen aus der Situation der Veränderung. Was gestern üblich und normal war, ist heute wieder anders. Dies bedingt eine laufende Auseinandersetzung mit der Veränderung und der sich verändernden Normalität des eigenen Körpers und mit Idealvorstellungen, wie ein idealer weiblicher oder ein idealer männlicher Körper aussehen sollte. Im Wissen um die Unsicherheit der Jugendlichen ihren körperlichen Veränderungen gegenüber und der vielen Fragen, die daraus entstehen, liegt aber auch die Gefahr, diese zu schnell zu beruhigen und dabei medizinisch relevante Befunde zu übersehen (z.B. Hypogonadismus versus verspätete Pubertät). Der Arzt soll für jedes Alter die Normalität von pathologischen Erscheinungen abgrenzen können. Dafür ist eine gute, fundierte medizinische Ausbildung und Erfahrung mit Jugendlichen nötig.

Das Beispiel der sekundären Amenorrhoe der jungen Frau zeigt gut, wie komplex und verschiedene Ebenen betreffend die Differentialdiagnose bei Jugendlichen sein kann. Ein Ausfall der Menses kann in diesem Alter physiologisch, d.h. Ausdruck des noch unausgereiften und unregelmässigen Zyklus sein. Diese Instabilität kann durch psychischen oder körperlichen Stress verstärkt werden. Vielleicht war eine erste Blutung gar keine Menarche, d.h. nicht uterin bedingt. Es muss deshalb der übrige Reife Zustand der Patientin beurteilt und das Knochenalter bestimmt werden. Die Amenorrhoe kann das erste Symptom einer Anorexie darstellen und tritt nicht selten schon vor dem Gewichtsverlust ein. Sie kann auch die Folge einer Anorexie sein und manchmal noch Jahre nach Erreichen des Normalgewichtes weiterbestehen. Jede Art einer chronischen Erkrankung kann zu einer Amenorrhoe führen. Sie kann selbstverständlich auch Folge einer Schwangerschaft oder einer hormonellen Störung sein, wobei vor allem eine Dysfunktion der Schilddrüse, der Ovarien, der Nebennierenrinden, von Hypophyse und Hypothalamus dafür verantwortlich sein können. Selbstverständlich ist es nicht möglich, alle diese Differentialdiagnosen formell auszuschliessen, da viele, komplizierte und zu wenig gut erklärte diagnostische Massnahmen in diesem Alter an sich wieder Angst auslösen und damit pathogen wirken können. An diesem Beispiel wird gut ersichtlich, dass die Probleme deretwegen Jugendliche den Arzt aufsuchen, von den Problemen anderer Altersgruppen recht verschieden sind. Neben den oben in Frageform aufgeführten Problemkreisen geht es im Weiteren häufig um Essstörungen wie Magersucht (Anorexie), Fettsucht (Adipositas) und die Ess-Brechsucht (Bulimie).

3.2. Die psychische Ebene
Im psychischen Bereich geht es v.a. darum, dem Jugendlichen zu helfen, die vorübergehende Desintegration von Körper und Seele zu überwinden und den veränderten, neuen Körper in ein neues und gefestigtes Selbstbild zu überführen. Dies führt in diesem Alter zu einem besonders ausgeprägten Bedürfnis nach einer ganzheitlichen Medizin. Denn eine Medizin, welche in somatische und psychische Medizin aufteilt und aufgeteilt ist, erschwert dem Jugendlichen diese Integration. Vor allem psychosomatische Krankheiten des Jugendlichen haben ihren Ursprung in dieser Desintegration. Alle, die mit Jugendlichen arbeiten, sind häufiger psychotherapeutisch tätig, als sie dies manchmal wahrhaben wollen. Jugendliche können ja nur im äussersten Notfall dazu bewegt werden, einen Psychiater oder Psychologen aufzusuchen ("ich spinne doch nicht"). Der Weg zum somatisch definierten Arzt und über ein somatisches Symptom ist für sie einfacher.

Einige spezielle Eigenschaften wie Ehrlichkeit und Transparenz, sowie Flexibiliät und Disponibilität erleichtern den Kontakt und die Beziehung mit dem Adoleszenten. Man sollte bereit sein, von ihm zu lernen und offen genug sein, sich selbst in Frage zu stellen und eigene Positionen zu überdenken. Oft dienen wir als Modell. Manchmal spielen wir die Rolle der Mutter oder des Vaters, vor allem wenn einer der beiden physisch und/oder psychisch abwesend ist oder als sehr schwach erlebt wird. Wir können diese Rollen nicht real ersetzen, wir können uns aber zur Verfügung halten, um wie eine Dia-Leinwand jenes Bild abzubilden, welches man auf uns projiziert. Auf Grund der spezifischen Anforderungen ergeben sich auch im psychischen Bereich recht hohe Ansprüche an den behandelnden Arzt. Psychologisch- psychotherapeutische Aspekte kommen in der medizinischen Ausbildung oft zu kurz. Wenn man mit Adoleszenten arbeiten will, muss man sich auch hier die nötige Kompetenz aneignen. Die Weiterbildung in Form von Balint-Gruppen stellt dabei ein absolutes Minimum dar. Für eine therapeutische Arbeit mit Kindern und Jugendlichen unter dem Titel "ganzheitlich" oder "psychosomatisch" scheint eine Weiterbildung in Familientherapie sinnvoll, um die verschiedenen Systeme (Familie, Schule etc.) zu verstehen und wenn nötig kompetent eingreifen zu können. Im Weiteren halte ich eine eigene therapeutische Erfahrung für unumgänglich. Es ist auch für einen praktizierenden Arzt möglich, eine solche Ausbildung zu erlangen. Es gibt verschiedene gut qualifizierte Institute, im Rahmen derer man eine solche Ausbildung neben der täglichen Arbeit in der Praxis erlangen kann. Dabei findet eine solche Weiterbildung häufig mindestens teilweise in Form von Supervisionsstunden statt. Dies erlaubt von Anfang an, in der Praxis psychotherapeutisch zu arbeiten.

3.3. Die soziale Ebene
Im Bezug auf das soziale Umfeld des Jugendlichen bestehen v.a. zwei Ansprüche an den Arzt. Erstens sollte er die Regeln kennen, welchen der Adoleszente in den Gleichaltrigen Gruppen ausgesetzt und unterworfen ist. Zweitens sollte er den Jugendlichen im Kampf um dessen Autonomie unterstützen können. Bei familiären oder schulischen Konflikten kann es sinnvoll und nützlich sein, Familiengespräche oder Gespräche mit den Eltern alleine durchzuführen. Die Unterstützung der Autonomiebestrebungen des Jugendlichen, ist aber oft weniger eine Sache des Lehrens als vielmehr der direkten Demonstration an Hand der Arzt-Patienten-Beziehung im Hier und Jetzt. Der Arzt hilft dem Adoleszenten, seine Autonomie zu entwickeln, indem er ihm erlaubt, die Abhängigkeit von ihm, dem Arzt, zu reduzieren. Dies kann dem Adoleszenten als Modell dienen, um die Abhängigkeit von seinen Eltern zu vermindern. Dazu sollten wir Freude am Erklären haben und auf diese Weise dem Adoleszenten helfen, seinen Körper in Besitz zu nehmen und dessen Funktionen zu begreifen. Dazu eine Illustration: Früher gab es Diabetologen, bei welchen die Patienten bei jeder Änderung des Blut- oder Urinzuckers den Arzt anrufen mussten, der ihnen dann sagte, ob und um wie viele Einheiten sie die Insulindosis nach oben oder nach unten verändern mussten. Heute lernt der Patient glücklicherweise in den meisten Fällen selbst mit seiner lebenslangen Störung umzugehen und die Insulindosis seinen Bedürfnissen selbstständig anzupassen. Erstere hielten ihre Patienten in einer Abhängigkeit, letztere gestatten ihren Patienten autonom und selbstverantwortlich zu handeln.

4. Beispiele

Die Frage des Hirsutismus ist ein schönes Beispiel um die Ansprüche an den ganzheitlich denkenden Jugendarzt zu illustrieren. Der Hirsutismus, d.h. die vermehrte Körperbehaarung bei der Frau, tritt meistens im Rahmen der Pubertätsentwicklung auf. Unabhängig davon, ob diese vermehrte Körperbehaarung Ausdruck einer Normvariante oder eines pathologischen Geschehens ist, wird er von der betreffenden jungen Frau als neu eingetreten und damit als zumindest erklärungsbedürftig, wenn nicht als abklärungsbedürftig empfunden. Der Hirsutismus stört aber nicht nur auf dieser körperlichen Ebene, er stört auch bei der Integration des neuen Körpers in das neue Selbstbild, welches im Jugendalter oft von einem als ideal und perfekt phantasierten Körper geprägt ist. Der perfekte Frauenkörper, wie er beispielsweise von den Illustrierten kolportiert wird, ist zur Zeit aber praktisch haarlos. Im Weiteren stört er, da er als "Unkonformität" dem Gruppendruck ausgesetzt ist ("Du hast ja einen Schnauz"). Der sich speziell mit Jugendlichen beschäftigende Arzt, sollte diese gerade gemachten Überlegungen zur Verfügung haben, und diese ins erklärende Gespräch mit dem Patienten adäquat (d.h. therapeutisch) umsetzen können. Dies alleine genügt aber nicht. Der Hirsutismus kann ja auch Ausdruck einer körperlichen Störung (z.B. adrenogenitales Syndrom, Nebennierenrinden-Adenom, polizystische Ovarien) sein. Eine solche muss kompetent ausgeschlossen werden können. Auch wenn ein Hirsutismus Ausdruck einer Normvariante ist, kann er so störend sein, dass eine medikamentöse Behandlung (neben kosmetischen Massnahmen) angebracht sein kann. Auch hier gilt es wieder das nötige Know-how zur Verfügung zu haben.

Ein weiteres typisches Beispiel ist das Problem des Kleinwuchses, unter welchem vor allem männliche Jugendliche um das 12. und 13. Altersjahr herum vermehrt zu leiden beginnen. Klein sein ist in dieser Altersgruppe schwieriger und schmerzvoller, der Arzt wird deshalb mit diesem Problem in dieser Altersgruppe häufiger konfrontiert. Im Vordergrund steht dabei der Leidensdruck, welcher durch einen erschwerten Zugang in die Gruppen Gleichaltriger entsteht. Der Kleinwuchs widerspricht dem Bedürfnis nach Konformität und benachteiligt zusätzlich durch die Tatsache, dass Kleinsein auch Unreifsein bedeutet und in diesen Gruppen mit einer tieferen Rangstellung und schlechteren Akzeptanz einhergeht. Als behandelnder Arzt sollten wir in der Lage sein, zuerst einmal ein pathologisches Geschehen als Ursache des Kleinwuchses ausschliessen zu können. Wenn der Kleinwuchs einmal als Normvariante identifiziert ist, stellt sich die Frage nach möglichen Behandlungen. Diese reichen von der einfachen Ausrechnung der voraussichtlichen Erwachsenengrösse auf Grund des Handröntgenbildes und der Erklärung des gefundenen Wachstumsmusters (beispielsweise konstitutionelle Verzögerung von Wachstum und Pubertät) bis zu einer Hormonbehandlung (beispielsweise mit niedrig dosiertem Testosteron). Dabei hilft das Wissen um den schweren Leidensdruck, welcher durch eine konstitutionelle Verzögerung entstehen kann, den Patienten gut zu beraten und ihm zu helfen, das Für-und-Wider einer allfälligen Behandlung gut abwägen zu können.

5. Konkrete Vorschläge für die Praxis

Mit Jugendlichen, die älter als 12 - 13 Jahre alt sind, sollte nach Möglichkeit zuerst alleine, d.h. ohne Anwesenheit der Eltern gesprochen werden. Damit wird signalisiert: Du bist mein Patient und Gesprächspartner, nicht Deine Mutter oder Dein Vater, zuerst höre ich Dir zu, von Dir möchte ich wissen, was Du von mir möchtest. Am Anfang des Gesprächs stehen Fragen wie: Weshalb kommst Du zu mir? Was möchtest Du von mir? Was erwartest Du von mir, damit Du zufrieden von hier weggehst? Es ist wichtig, gerade zu Beginn diese Fragen zu klären und damit quasi einen Auftrag festzulegen. Einfach ist es, die Anamnesenerhebung mit dem Gespräch über die Schule zu beginnen. Es kann dabei über die verschiedenen schulischen Fähigkeiten und über die bevorzugten Fächer gesprochen werden. Eine kurze Unterhaltung über die bevorzugten Hobbys gibt einige Aufschlüsse über die Beziehungen in den Gruppen Gleichaltriger. Ein Jugendlicher, welcher beispielsweise gerne Fussball spielt, hat eine grössere Chance in der Gleichaltrigen Gruppe gut integriert zu sein als ein Jugendlicher, der es vorzieht zu Hause zu lesen oder auf dem Computer zu spielen. Im Gespräch über Kollegen und Freunde und deren Freiheiten erfährt man viel über die Freiheiten und Autonomieentwicklung des Patienten im Bezug auf seine eigene Familie. Bei der Untersuchung sollten auch die Geschlechtsorgane untersucht werden. Ein männlicher Untersucher sollte die Hodengrösse mit dem Orchidometer messen und auch das Glied des Patienten betrachten und dem Jugendlichen dabei die Normalität der Befunde mitteilen und die Pubertätsentwicklung im Allgemeinen erklären. Auch bei den Mädchen interessiert er sich für den Reifezustand des Körpers, dabei geht es vor allem um die Reife der Brust und der Körperbehaarung. Eine weitergehende Untersuchung der Genitalorgane überlässt er bei Mädchen mit Vorteil einer Kollegin, denn ein gleichgeschlechtlicher Arzt ist für die Untersuchung der Geschlechtsorgane in dieser Altersgruppe von Vorteil. Man kann ein Organ glaubwürdiger untersuchen und dessen Funktion besprechen, wenn man dieses Organ auch selbst besitzt, und man auf diese Weise auch eigene Erfahrung vermitteln kann.

6. Zusammenfassung

Jugendliche sind eine eigene, immer grösser werdende Patientengruppe. Das zentrale Prinzip der Pubertät und Adoleszenz ist die Veränderung, welche eine permanente Auseinandersetzung mit der immer wieder neuen Normalität erzwingt. Veränderungen finden auf der körperlichen, der innerpsychischen und der psychosozialen Ebene statt. Diese Situation der permanenten Veränderung verlangt vom Arzt spezielles Wissen und spezielle Fertigkeiten. Diese stammen teilweise aus Pädiatrie, Endokrinologie, Andrologie, Gynäkologie, sowie Psychologie und Psychiatrie. Es braucht deshalb spezialisierte Jugendärzte. Spezialisten braucht es aber nicht nur für die Arbeit mit den Jugendlichen selbst, sondern auch damit diese ihr Wissen und ihre Erfahrung für die Weiterbildung von Studenten und Kollegen zur Verfügung stellen können.

Prof. Dr. Urs Eiholzer