In der Adoleszentenmedizin ist interdisziplinäre Arbeit besonders wichtig

In dem sich abzeichnenden Paradigmenwechsel in der Pädiatrie gewinnt die Adoleszentenmedizin immer mehr an Gewicht. Dabei stellen sich neue Fragen zur ärztlichen Betreuung. Dr. Eberhard Zangger, Zürich, sprach für PÄDIATRIE mit dem Kinder- und Jugendarzt Prof. Dr. med. Urs Eiholzer, der in Zürich eine grosse Gemeinschaftspraxis leitet.

Interview

PÄDIATRIE: Herr Dr. Eiholzer, warum setzen Sie sich für die interdisziplinäre Rundumbetreuung von jungen Patienten ein?

Eiholzer: Während meiner Zeit als pädiatrischer Endokrinologe am Zürcher Kinderspital habe ich gesehen, dass eine Universitätsklinik kaum die richtige Umgebung für eine Rundumbetreuung der Patienten bieten kann. Besonders die emotionalen Aspekte einer Erkrankung kommen im Grossbetrieb zu kurz. Organische Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen sind in vielen Fällen mit seelischen Problemen verknüpft. Es kommt daneben auch häufig vor, dass gar kein organisches Leiden vorliegt; zum Beispiel gibt es Kinder, die einfach nur das Gefühl haben, zu klein zu sein und darunter leiden. Diese Patienten benötigen viel eher eine psychologische Betreuung. Jugendmedizin muss also zwangsläufig psychosomatisch ausgerichtet sein. Für mich persönlich hat diese Erkenntnis dazu geführt, dass ich die psychosomatische Seite meiner Ausbildung zunächst vertieft habe. Nachdem ich mich selbstständig gemacht hatte und die Patientenzahlen es erlaubten, nahm ich eine Therapeutin in die Praxis auf. Heute ist daraus ein interdisziplinäres Team mit sechs Spezialisten und Spezialistinnen geworden.
 

PÄDIATRIE: Ist eine Praxisgemeinschaft mehr als nur die "geografische Vereinigung" von Einzelpraxen?

Eiholzer: Bei niedergelassenen Ärzten erfolgt die Therapie scheibchenweise: Der Arzt behandelt, der Psychologe behandelt, und andere Spezialisten behandeln auch. Alle sprechen andere Sprachen, denen allzu oft gemeinsam ist, dass der Patient sie nicht versteht. Der Hauptunterschied zwischen einer solchen Vorgehensweise und der Behandlung bei uns in der Praxisgemeinschaft ist ganz einfach die viel effizientere Kommunikation hier. Die kurzen Wege, das, was Sie "geografische Vereinigung von Praxen" nennen, bringt letztlich den entscheidenden Vorteil: Mit Hilfe von kurzen und häufigen Gesprächen unter den Kollegen zwischen "Tür und Angel" lassen sich viele aufkommende Probleme oft schnell und unkompliziert lösen. Beispielsweise stellt sich bei einem Mädchen, das zu früh in die Pubertät kommt, die Frage, ob man den Prozess bremsen soll oder nicht. Ein solcher Fall muss zwischen Arzt, Psychologen, Patientin und Familie besprochen werden. Wir können das ohne grossen Aufwand tun. Neben der "geografischen Nähe" ist auch ganz entscheidend, dass die einzelnen Kollegen über möglichst breite Kenntnisse verfügen, sich also in die Rolle der anderen hineinversetzen können, und ein vertrauensvolles Verhältnis zueinander haben. Bei uns schafft die Nähe Respekt für die Arbeit des anderen. So können wir unfruchtbare Rivalitäten und Auseinandersetzungen vermeiden. Dadurch entsteht eine angenehme Stimmung im Haus, die sich wiederum positiv auf die Patientenbetreuung überträgt.
 

PÄDIATRIE: Ihre Patienten müssen zum Teil über intime Angelegenheiten sprechen. Fällt es da nicht schwer, Vertrauen zu mehreren Personen aufzubauen?

Eiholzer: Natürlich fällt es schwerer, sich mehreren Personen zu öffnen. Wenn interdisziplinäre Betreuung aber unumgänglich ist, zum Beispiel, weil es sich um ein körperliches und seelisches Leiden handelt, fällt es den Patienten leichter, sich Spezialisten anzuvertrauen, die im selben Hause tätig sind. Ein grosser Vorteil für den Patienten sind auch die minimalen Reibungen unter den Therapeuten. Die Ärzte und Psychologen hier im Haus rivalisieren nicht miteinander. Und Überweisungen unter Kollegen, die gut miteinander auskommen, sind in aller Regel erfolgreich.
 

PÄDIATRIE: Wie werden die Patienten auf Sie aufmerksam?

Eiholzer: Zu uns kommen viele Kinder, die unter Wachstums- und Pubertätsproblemen leiden. Etwa zwei Drittel der Patienten werden von Ärzten von ausserhalb an uns überwiesen, auch von niedergelassenen Pädiatern. In diesen Fällen handelt es sich zum Beispiel um unklare Diagnosen und Unsicherheiten, ob der Patient an einem hormonellen oder seelischen Problem leidet. Oft müssen wir einfach nur Auskünfte erteilen.
 

PÄDIATRIE: Was für eine Patientenklientel haben Sie insgesamt?

Eiholzer: Viele der Kinder und Jugendlichen haben Schulsorgen und -ängste. Bei manchen bestehen Teilleistungsstörungen, oder/und sie werden über- oder unterfordert. In den meisten Fällen beeinflussen bestehende Wachstumsprobleme auch das Aussehen. Die Kinder sind oft zu klein, zu gross, zu dick oder zu dünn und haben damit Probleme. Zu uns kommen bettnässende Kinder in der Vorpubertät genauso wie Jugendliche, deren Adoleszenz kein Ende findet, weil die Ablösung von der Familie nicht gelingt. Es gibt daneben Kinder, die ein körperliches oder Intelligenzbezogenes Handicap haben. Rundumbetreuung bedeutet, dass diese Kinder "gut abgeklärt" werden, um jedem Einzelnen die für ihn beste Schulklasse, beste Ausbildung und beste Berufswahl zu ermöglichen. In manchen Fällen zieht sich die Betreuung über Jahrzehnte hin. Bei uns gibt es auch ein psychotherapeutisches Angebot für erwachsene Patienten.
 

PÄDIATRIE: Wie hat sich die Zusammensetzung des Teams im Laufe der Zeit verändert?

Eiholzer: Wir haben von Anfang an ein breites Angebot abgedeckt. Unser Interesse bestand darin, durch die Aufnahme weiterer Spezialisten eine grössere Angebotstiefe zu erreichen. Inzwischen ist unser Team ein international anerkanntes Forschungsinstitut für Fragen des Wachstums und der Pubertät geworden.
 

PÄDIATRIE: Was ist die Konsequenz der interdisziplinären Arbeit in Bezug auf die Behandlung? Was ändert sich konkret gegenüber der Behandlung in der Einzelpraxis?

Eiholzer: Die Therapie gestaltet sich nicht nach einem bestimmten Schema, sie variiert von Fall zu Fall. Beispielsweise: Ein Kind, das unter einem Wachstumshormonmangel leidet, ist zu klein und muss hormonell behandelt werden. Gleichzeitig stellt sich die Frage, ob man es einschulen soll. Die Lehrerin ist vielleicht der Meinung, das Kind soll in eine Sonderschule. Die Eltern finden, es sei gescheit, und die Kindergärtnerin schlägt vor, dass es noch ein weiteres Jahr im Kindergarten bleibt. Bei durchschnittlicher Intelligenz werden 50 Prozent der zu kleinen Kinder ein Jahr verspätet eingeschult. Dem Kind wird also zusätzlich zu dem Nachteil, zu klein zu sein, noch künstlich der Nachteil hinzugefügt, sich nicht bewähren zu dürfen. Das muss unbedingt vermieden werden. In solchen Fällen führen wir eine klassische Abklärung durch. Wir wollen wissen, was das Kind kann, wie es sich fühlt, wie reif es ist. Schliesslich nehmen die Eltern mit den Schulbehörden Kontakt auf und versuchen auf der Basis unserer Abklärung eine optimale Lösung zu finden.
 

PÄDIATRIE: Wie stehen eigentlich die Krankenkassen zu der interdisziplinären Arbeit? Ist ein "Eiholzer-Patient" nicht doppelt so teuer wie ein Patient, der in einer Einzelpraxis ärztliche Behandlung sucht?

Eiholzer: In den 15 Jahren seit der Gründung unserer Praxisgemeinschaft haben die Krankenkassen noch keine einzige Rechnung von uns beanstandet. Das ist wahrscheinlich kein schlechtes Zeichen. Es ist sicher auch den Krankenkassen klar, dass die aufeinander abgestimmte multidisziplinäre Betreuung eines Patienten kostengünstiger kommt als das wenig koordinierte Wandern von Spezialist zu Spezialist. Innerhalb der Praxisgemeinschaft ist im Prinzip jeder sein eigener Arbeitgeber. Das heisst jeder Spezialist rechnet auch seine Dienstleistungen eigenständig ab. Sofern es Hierarchien gibt, sind wir darum bemüht, sie möglichst flach zu halten. Wir haben ganz hervorragende Psychologen, die eigentlich als ein in sich geschlossenes Team gegen aussen auftreten sollten. Juristisch ist die delegierte Psychotherapie jedoch an strikte Richtlinien gebunden und sowohl auf ärztliche Überweisungen wie auch auf ärztliche Betreuung der Patienten angewiesen. Dadurch entstehen gewisse interne Abhängigkeiten. Auch deswegen ist es sinnvoll, wenn Arzt und Psychotherapeut zusammenarbeiten.
 

PÄDIATRIE: Wie steht es mit der Organisation einer Praxisgemeinschaft? Sind Sie nicht mehr Unternehmer und Geschäftsführer als Arzt?

Eiholzer: Das ist ein ernsthaftes Problem. Der Aufwand für administrative Arbeiten darf nicht unterschätzt werden. Zur reinen Verwaltung kommt noch die Öffentlichkeitsarbeit, die Vorbereitung und Durchführung von Weiterbildungen, das Einrichten einer Website und ähnliches. Ausserdem trägt in unserem Fall einer allein den grössten Teil des unternehmerischen Risikos. Finanziell stützt sich unsere Praxis auf eine Mischkalkulation. Das gibt uns eine solide Basis.
 

PÄDIATRIE: Sie haben Öffentlichkeitsarbeit angesprochen. Ist diese Bestandteil Ihres Konzepts?

Eiholzer: Wir können nicht mehr Patienten aufnehmen, als wir freie Kapazitäten haben. Deswegen versuchen wir, die hier gesammelten Erfahrungen an andere weiterzugeben, und zwar an Spezialisten, aber auch an Betroffene, also Patienten und Familien. Wir führen zum Beispiel Workshops durch und unterstützen Selbsthilfegruppen. Schliesslich möchten wir so vielen Patienten und betroffenen Familien wie möglich helfen, auch über die tägliche Praxisarbeit hinaus.